top of page
  • Instagram
Magdalena Reuss

Die Wege der Erinnerung –
Zur Werkserie Gebrauchtreise von Elisabeth Wedenig

„Wenn eine unserer Gaben noch großartiger als die anderen genannt werden kann, dann ist es, finde ich, das Gedächtnis. Es liegt etwas Verräterisches darin, dass die Stärke, das Versagen, die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses so viel unbegreiflicher sind als die all unserer anderen Geisteskräfte.“ (Jane Austen, Mansfield Park, 1814)


Gedächtnis, Erinnerung – grundlegende Voraussetzungen für unsere Existenz als denkende menschliche Wesen, wenn nicht sogar die wichtigsten. Ohne sie wäre kein Sprechen möglich, kein bewusstes, kontextualisiertes Handeln, keine Orientierung oder Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Unsere Erinnerungen prägen uns, ob positiv oder negativ, und machen uns zu den Personen, die wir sind.


Und doch ist das mit der Erinnerung tückisch: können wir ihr immer trauen? Nein. Erinnerung ist nicht exakt, die Vergangenheit verschwimmt, bekommt subjektive Färbungen. Das Aufblitzen von Wahrnehmungen und Gefühlen hinterlässt in uns einen Eindruck von Realität, wie wir sie vielleicht einmal erlebt haben, jedoch gibt uns das Gedächtnis kein wahrheitsgetreues Abbild des Erlebten. Manches wird gespeichert, manches vergessen, manches überlagert – in der Wissenschaft spricht man auch von „Verzerrung“1. Manches wird versucht, durch Andenken haltbar zu machen, die Erinnerung auslösen – doch sie ist vergänglich.


Elisabeth Wedenig, die sich intensiv mit dem Thema der Erinnerung und dessen Forschungsfeld beschäftigt, hat auf den Eigenheiten des Gedächtnisses ihre Werkserie Gebrauchtreise (2013 – 2016) aufgebaut. Ausgangspunkt sind, wie der Titel suggeriert, nicht ihre eigenen Erinnerungen, sondern Reise-Andenken ihres Großvaters aus den 1950er-Jahren, die sie in ihrem Haus gefunden hat: Postkarten, Bilder, Stadtpläne, Aufzeichnungen.


„Ich wollte Elemente aus seiner Reise für mich annehmen, überschreiben und zu etwas Neuem machen, zu etwas Eigenem“, so die Motivation der Künstlerin, sich mit den Erlebnissen des Großvaters auseinanderzusetzen. Sie reist seinen hinterlassenen Spuren und Routen nach, überlagert diese Erinnerungen durch neue Erlebnisse und schließt Lücken durch eigene Erinnerungen und auch dazu Erfundenes.


Elisabeth Wedenig stellt auch die Frage, wie Realität erlebt wird. Gibt es überhaupt die Realität? Können die Erfahrungen einer anderen Person nachempfunden werden? Auf den Reisespuren des Großvaters findet sie ihre eigene, persönliche Realität und setzt sie, vermengt mit den Erinnerungen des Großvaters, künstlerisch um.


Mit den Themen Erinnerung, Traum und Wahrnehmung von Realität hat sich Elisabeth Wedenig schon in früheren Werken künstlerisch auseinandergesetzt. Ihr hauptsächliches Medium ist die Malerei. Sie malt vorrangig abstrakt mit einigen figürlichen Elementen – eine perfekte Allegorie auf die verschwimmende Erinnerung. Das Bild entsteht im Malprozess und entwickelt sich teilweise collageartig weiter. Perspektiven vermengen und überlagern sich, die fertigen Arbeiten sind Projektionen der gewonnenen Eindrücke von Orten und Begebenheiten. Manche Themen wiederholen sich und werden fortlaufend abstrahiert. Neben der Malerei arbeitet Wedenig auch mit Fotografien, die weiter bearbeitet werden, und mit Zeichnungen, die einen sehr fragmentarischen Duktus besitzen. Sie arbeitet dabei mit Materialien wie Leinwand, Holz, Acryl- und Ölfarben, Papier und Bleistift.



Die Reisen im Zuge der Gebrauchtreise:


Replay / Gebrauchtreise 1

Route 1954: Zürich Zurich, Genf Geneva, Lourdes, Côte Basque, San Sebastian, Madrid, Sevilla Seville, Cádiz, Barcelona, Nizza und Côte d'Azur Nice and Côte d'Azur, San Remo

Route 2013: Zürich Zurich, Genf Geneva, Marseille Marseilles, Lourdes, Côte Basque, San Sebastian, Bilbao, Madrid, Sevilla Seville, Cádiz, Granada, Barcelona, Nizza und Cote d'Azur Nice and Côte d'Azur, San Remo


The running dog / Gebrauchtreise 2

Route 1955: Belgrad Belgrade, Thessaloniki, Istanbul, Athen Athens, Kap Sounion Cape Sounio, Corinth, Varkiza

Route 2014: 2.1: Istanbul, 2.2: Thessaloniki, Athen Athens, Kap Sounion Cape Sounio, Varkiza, Corinth, Peloponnes Peloponnese


Building apples with oranges / Gebrauchtreise 3

Route1956: Budapest, Warschau Warsaw, Kiew Kiev, Moskau Moscow

Route 1999: Riga, Moskau Moscow, am Sura at Sura, Nischni Nowgorod, St. Petersburg


Die zeitlich gesehen erste Reise, die in Gebrauchtreise thematisiert wird, führte die Künstlerin 1999 nach Osteuropa und Russland. Jahre später erst verband sie diese Serie mit gefundenen Erinnerungsstücken des Großvaters. In der Werkserie bildet diese Reise den dritten Teil, Building apples with oranges / Gebrauchtreise 3. Die Route unterscheidet sich hier im Gegensatz zu den Werkgruppen von Gebrauchtreise 1 und 2 maßgeblich, da die Reise von Elisabeth Wedenig lange vor Entdecken der großväterlichen Reiseroute stattfand und das einzige gleiche Ziel Moskau war.


Building apples with oranges bezieht sich auf das englische Äquivalent zu dem Sprichwort „Äpfel mit Birnen vergleichen“. Im konkreten Sinne sind zwar malerisch tatsächlich Orangen und Äpfel vertreten, der Titel suggeriert aber vor allem den Vergleich der eigenen Reise der Künstlerin mit der des Großvaters. Durch die Unterschiedlichkeit der Reiserouten werden Erinnerungen noch stärker verändert, beziehungsweise verschmelzen sie mit denen des Großvaters, und doch ist es unmöglich, mit den eigenen Erfahrungen die des Großvaters nachzuzeichnen. Hier greifen die Gedächtnisvorgänge des Wiedererkennens und der falschen Erinnerung.2 Die eigene Reise wird in den Andenken des Großvaters teilweise wiedererkannt, manchmal sogar widergespiegelt, und die Erinnerungsinhalte zweier Menschen vereinen sich zu einer neuen, „falschen“ Erinnerung und einem neuen künstlerischen Ergebnis. Auch erwecken im Nachhinein gefundene Erinnerungsstücke mit der Zeit den Eindruck, geschilderte Erfahrungen selbst gemacht zu haben und führen zu einer verzerrten Erinnerung.


Die Werkgruppe ist von großformatigen Malereien geprägt. Die Farben fließen ineinander, vermischen sich und verrinnen, wie es den Erinnerungen selbst so leicht passiert. Manchmal ist ein Menschen-, Tier- oder Pflanzenmotiv in die Bildstruktur verwoben, oftmals nicht auf den ersten Blick erkennbar.


Als Kompositionsgerüst dienen die Reiserouten, die mittels Klebestreifentechnik in die Malerei integriert sind. Analog zum Vermögen des Gedächtnisses sind einige Streifen bröckelig und hinterlassen kleine Lücken in den Farbelementen, andere wiederum sind scharfkantig und wirken wie Trennlinien auf den großflächigen Bildern.


Die Farben und figürlichen Elemente in den sonst eher abstrakten, schemenhaften Malereien sind an die jeweiligen Reiseabschnitte gekoppelt. So erinnert zum Beispiel der Bär im violett-kühlen Farbgefüge von Deduschka eindeutig an Russland.


Nicht nur die Künstlerin verarbeitet die Erinnerungen des Großvaters, Wedenig spielt auch mit der Rezeption der Betrachterinnen und Betrachter, mit deren Wahrnehmung und dem möglichen Wiedererkennen eigener Erfahrungen. Vielleicht lässt sich eine Reiseroute wiedererkennen, ein Objektelement, eine Farbe, ein Eindruck und löst so wiederum Erinnerungen, Eindrücke und Gefühle aus.


Neben den Malereien präsentiert Elisabeth Wedenig eine Reihe von Postkarten der Reise des Großvaters, allerdings nicht in ihrem Originalzustand. In A piece of Russia wird die Überlagerung der Erinnerung am plakativsten vor Augen geführt: die Sehenswürdigkeiten auf den Abbildungen wurden übermalt und mit abstrakten, an Natur erinnernden Kompositionen ersetzt. Wie bei den anderen Bildern der Werkgruppe steht auch hier die Landschaft im Vordergrund – wie es bei Wedenigs Reise 1999 schon der Fall gewesen ist. Elemente von Wasser, Wiesen, Wolken und Wald ziehen sich durch und verändern die vorhandenen Erinnerungsstücke aus den 1950er Jahren. Mit feinem Pinselstrich lässt sie etwa in A piece of Russia #6 eine Baum- und Strauchlandschaft entstehen, in etwas gestischerer, dynamischer Ausführung entstehen ganze Wolkentürme (A piece of Russia #7, u.a.).


Mit der Reise aus dem Jahr 2013, die bereits im Zeichen des Gebrauchtreise-Projektes stand, versucht Elisabeth Wedenig, eine konkrete Reiseroute ihres Großvaters so genau wie möglich nachzureisen – an dieselben Orte, mit denselben Transportmitteln, mit Fotografien an denselben Plätzen, in derselben Reihenfolge.


In Replay / Gebrauchtreise 1 zieht sich das Konzept der Collage durch: Sequenzen und Elemente, auch aus vorhergehenden Erfahrungen, werden verknüpft, neu angeordnet und verdichtet.


Bei genauerem Betrachten der Bilder lässt sich erkennen, dass viele Teile nicht zusammengehören (können). Linien durchqueren idyllische Landschaftskompositionen, wie auch Perforierungen die Zeichnung, Spiegelungen sind inkonsequent, Perspektiven ändern sich. Bei Sevilla Wunderland etwa zeigt sich dies sehr deutlich: scheinbar völlig unzusammenhängende Objekte wie Bäume, Wiesen, Musterungen und Gänge werden verdichtet und lassen so einen neuen, etwas surreal anmutenden Ort entstehen. Die Erlebnisse haben sich beim mentalen Abruf und Durchlauf verdichtet, sind immer mehr zusammengeschmolzen zu einer vagen Erinnerung. Auch hier spielt Elisabeth Wedenig wieder mit der Ungenauigkeit des Gedächtnisses, die neue, subjektive Realitäten hervorbringt.


In dieser Werkgruppe sind großformatige Malereien gemischt mit Zeichnungen auf Papier, mit Perforierungen in Form von Punkten, die Linien und Konturen ergeben, gespickt. Auch Teile von Fotografien wurden collageartig verarbeitet.


In der Werkgruppe The running dog / Gebrauchtreise 2 zeigt Wedenig die Abstraktion von Realität und die Fehlerhaftigkeit von Erinnerung noch pointierter. Sie greift ein Element aus der zweiten Reise heraus und malt und zeichnet es immer wieder: den Hund. Auf einem Bild noch völlig ausformuliert und konkret gemalt, fehlt beim nächsten der Kopf, dann der hintere Körperteil, dann ist selbst die ganze Figur des Hundes gänzlich abstrahiert. Die Umrisse verschwinden, Farbfelder dominieren das Gemälde wie die Lücken unsere Erinnerung.


Die Zeichnungen (Dog on paper), die in dieser Werkgruppe die Malereien begleiten, zeigen die Hundefigur, die nach und nach immer mehr von geometrischen Formen durchzogen und schließlich fast ersetzt wird. Gezeigt wird damit, dass Erinnerungen durch Neubetrachtung und Wiederaufruf stets überschrieben und neu geprägt werden und neue Formen annehmen.


Den abschließenden Bogen um alle Werkgruppen der Gebrauchtreise spannt Place cells / Gebrauchtreise 1-3. Die Künstlerin gruppiert gefundene Erinnerungstücke, Fotos, Postkarten und Stadtpläne des Großvaters neben ihren eigenen kleinformatigen Malereien und Zeichnungen als Stationen der Reisen. Diese Stationen werden vermischt und ergeben eine Art „neue Landkarte“.


Der Titel stammt von der wissenschaftlichen Bezeichnung gewisser Zellen in der Gehirnregion des Hippocampus. Platzzellen (place cells) sorgen dafür, dass wir unsere Orientierung behalten. Jedoch sind auch hier die Orte nicht nach geographischen Gesichtspunkten geordnet, sondern selbst weit entfernte Orte können nebeneinanderliegende Zellen im Gehirn einnehmen.3


Dies bringt Elisabeth Wedenig auf eine Leinwand, am Boden liegend, kommentarlos aufbereitet, die Bilder scheinbar willkürlich angeordnet. Wie ein Teppich von Nomaden liegt die Leinwand im Raum und nimmt die Betrachterinnen und Betrachter mit auf ihre Reisen und zu ihren Erinnerungen.



1 Cf. Foster, Jonathan K., Gedächtnis und Gehirn, Reclam, 2014

2 Cf. Foster, Jonathan K., Gedächtnis und Gehirn, Reclam, 2014

3 Cf. Monyer, Hannah, Gessmann, Martin, Das geniale Gedächtnis, Knaus, 2015

bottom of page